Die 42. Tagung des Wissenschaftlichen Beirats des Milchindustrie-Verbandes (MIV) bot in guter Tradition wieder einen breiten Überblick über aktuelle, praxisnahe wissenschaftliche Fragen. Über 50 Teilnehmer aus Branche und Wissenschaft diskutierten am 20. November in Bamberg über Ökonomie, Mikrobiologie, Toxikologie, Nachhaltigkeit und Rechtsfragen. (ein Artikel der molkerei-industrie)
Eingangs der Tagung stellte MIV-Vorsitzender Peter Stahl fest, dass sich die öffentliche Wahrnehmung der Branche über die Jahre hin stark verändert hat. Quasi jede Woche gibt es neue Angriffe gegen Milchprodukte und deren Konsum, insgesamt wird die Haltung der Gesellschaft gegenüber „Milch“ kritischer. Stahl empfahl der Milchindustrie Offenheit gegenüber solcher Kritik. Die Branche sollte gelassener sein und darauf vertrauen, dass unberechtigte Anschuldigungen sich nicht dauerhaft halten lassen. Wenn an einem Vorwurf ein Fünkchen Wahrheit ist, müsse dies aus Stahls Sicht als Ansatz zur Verbesserung aufgefasst werden, subjektiven Meinungen sollte man mit objektiver Wahrheit begegnen.
Bildquelle: molkerei-industrie
Kommunikative Kompetenz
Der Berliner Radiojournalist Volker Wieprecht, der in einem provozierenden Vortrag aktuelle Anschuldigungen gegen „Milch“ aufgriff, zeigte auf, dass eine Darstellung objektiver Zusammenhänge gar nicht so leicht ist. Denn in den Redaktionen herrscht so viel Zeit- und Produktionsdruck, dass sich komplexe Zusammenhänge oft gar nicht recherchieren und vermitteln lassen. Für ein Interview hat man gerade einmal 20 Minuten Vorbereitungszeit, zu wenig um gründlich zu informieren. Um das Ohr des Zuhörers zu bekommen, muss zugespitzt und provoziert werden. Und damit Botschaften überhaupt eine Chance haben, muss der Interviewpartner über kommunikative Kompetenz verfügen – diese sei wichtiger als Fachkompetenz, sagte Wieprecht.
Mit rein wissenschaftlichen Auskünften brauche man dem Normalverbraucher nicht zu kommen, er braucht einfache Darstellungen und ist nicht bereit oder in der Lage, sich mit Wissenschaft zu befassen, folgerte Wieprecht. Dies gelte im Übrigen auch für Journalisten …
In die Offensive gehen
Im Fazit empfiehlt Wieprecht der Milchindustrie in eine kommunikative Offensive zu treten. Aktuell gebe es keine zentrale Stelle, die Fehlauffassungen oder Falschberichte über Milch korrigiert, die Öffentlichkeit höre nirgendwo Gegenargumente. Daneben sollte lt. Wieprecht eine quantitative Offensive eingeleitet werden, in der Bedarfsanalysen für den Mopro-Verbrauch erstellt werden. Drittens sollte eine qualitative Offensive gestartet werden, in der die Branche Informationen über die gesamte Kette der Öffentlichkeit zugänglich machen muss. All dies müsse dauerhaft in einem laufenden Prozess erfolgen, riet der Journalist – was natürlich die entsprechenden Mittel benötigt.
Margen in der Erzeugung versichern?
Prof. Holger Thiele, ife Informations- und Forschungszentrum für Ernährungswirtschaft, berichtete über die kürzlich in den USA aufgelegte Versicherung für die in der Milcherzeugung anfallenden Margen. Aktuell beteiligen sich 60 Prozent der Farmer an dem vom US-Landwirtschaftsministerium aufgelegten Programm, im kommenden Jahr sollen 77 Prozent mitmachen. Hierbei zahlt ein Farmer einen Mindestbeitrag von 100 $ und bekommt dafür einen Ausgleich, wenn sich die Margen (durchschnittlicher nationaler Milchpreis minus durchschnittliche Futterkosten) über einen Zweimonatszeitraum unter dem gewählten Absicherungsniveau bewegen. Die Kosten dafür trägt der Staat.
In Europa würde eine ähnliche Lösung durchaus privatwirtschaftlich zu organisieren sein, sagte Thiele, und sie könnte sogar die Intervention ablösen. In der EU beträgt die „Margenversicherung“ durch die Intervention aktuell 9,2 Cent/kg Milch. Wollte ein Erzeuger 16 Cent Marge absichern, müsste er bei 100.000 kg Anlieferung 4.700 € Prämie bezahlen. Je nach Milchpreisentwicklung würde der Hof dann in einem Jahr draufzahlen und in einem anderen Jahr deutliche Versicherungsleistungen einstreichen können.
Vorteil einer Margenversicherung wäre, dass der Blick der Bauern endlich vom bloßen Milchpreis abrückt, dass das System insgesamt unbürokratisch wäre und kein Ankauf von Butter und MMP nötig wäre. Nachteile bestehen indes eine ganze Reihe: die Wirkung von Preissignalen könnte ausgeschaltet werden und ein Basisrisiko durch die Heterogenität der Erlöse und Kosten in der EU und sogar in einzelnen Regionen innerhalb der Länder bleibt bestehen (bei dem auch die Gefahr besteht, dass Erzeuger in einem Land ihre Kollegen in anderen Ländern subventionieren).
Sowohl Thiele als auch Prof. Folkhard Isermeyer (Thünen Institut) raten den Molkereien, sich mehr mit dem bekannten Instrument des Futurehandels zu beschäftigen, statt wie aktuell den Milchpreis aus dem Eigenkapital zu stützen.
Enzymaktivitätstest statt S-Klasse
Den mikrobiologischen Teil der Tagung eröffnete Prof. Erwin Märtlbauer, Lehrstuhl für Hygiene und Technologie der Milch an der LMU. Da sich die Gesamtkeimzahl der Lieferbetriebe kaum noch voneinander unterscheidet, sieht Märtlbauer keine Berechtigung für eine S-Klasse mehr (ebenso wie der Gesetzbgeber). Für die Milchqualität viel entscheidender sind heute die Lager- und Reinigungsbedingungen auf den Höfen. Dies gilt umso mehr für automatische Melksysteme, bei denen quasi ständig warme Milch in den Tank gefördert wird. Märtlbauer empfiehlt hier einen Vorkühler sowie einen Tankwächter, denn wenn die Tanktemperatur in die Gegend von 10 °C kommt, können sich Verderbskeime stark vermehren.
Problematisch sind insbesondere die Proteasen und Lipasen, die von den Mikroorganismen gebildet werden. Diese z.T. hitzestabilen Enzyme verursachen vorzeitigen Verderb, kritisch insbesondere auch vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung von Exporten. Zusammen mit einer Analyse der Keimspektren werden Enzymaktivitätstests in Zukunft eine große Rolle auch für die qualitative Einstufung der Rohmilch bekommen.
Prof. Siegfried Scherer, Lehrstuhl für mikrobielle Ökologie, ZIEL/TU München, brachte ergänzende Informationen darüber, wie ein industrielles Habitat „Milch“ selektierend auf die Mikroorganismen wirkt. Großangelegte Isolate aus Rohmilch haben ergeben, dass 20 Prozent der Keine unbekannten Arten angehören. 70 Prozent der erfassten Arten zeigen enzymatische Aktivität und viele von diesen Mikroben wachsen auch bei niedrigen Temperaturen. Trotz der hohen Biodiversität bleibt die Zahl der potentiellen Verderbskeime aber überschaubar. Pseudomonas ist und bleibt die häufigste Gattung in Rohmilch und Halbfabrikaten, so Scherer. In den Untersuchungen wurden neue hoch proteolytische Arten gefunden, 50 Prozent der Enzyme sind hoch hitzeresistent und Kühllagerung der Milch fördert Arten, die besonders hitzestabile Enzyme bilden.
Nachhaltigkeit
Prof. Hiltrud Nieberg, Thünen-Institut, stellte ein Konzept für das Nachhaltigkeitsmodul in QM-Milch vor. Erarbeitet wurde es u.a. auf Basis von Umfragen der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen anhand von repräsentativen Daten aus 750 Milchviehbetrieben sowie später weiteren 573 Höfen in Schleswig-Holstein. Eingeflossen sind auch (nicht repräsentative) Daten von 90 Betrieben in Bayern. Das Nachhaltigkeitsmodul soll ein bundesweit einheitliches Verständnis für die relevanten Nachhaltigkeitsaspekte schaffen, die einzelnen Kriterien (z.B. 27 beim Tierwohl) und deren Bewertung sollen für alle nachvollziehbar und transparent sein und am Ende ein Benchmarking für die Milcherzeugung ermöglichen. Zudem sollen Änderungen im Zeitverlauf verfolgt und Früherkennung für nötige Eingriffe geleistet werden. Das Ganze wird ein dynamischer Prozess, der auf ein gemeinsames Besserwerden zielt, erklärte Nieberg.
Nachhaltigkeit ist übrigens kein Weg für Mehrerlös im Markt. Die Molkereien, so Hans Holtorf (MIV-Vize und geschäftsführender Gesellschafter der frischli Milchwerke), stehen aber in einer Fürsorgepflicht für ihre Lieferanten und müssen diesen Hilfe auch in Sachen Nachhaltigkeit bieten. Ebenso geht es bei diesem Nachhaltigkeitsmodul darum, den Marktbeteiligten und der Gesellschaft gegenüber den jeweiligen Status aufzuzeigen, nicht aber darum, Auflagen für die Milcherzeugung zu machen oder gar anhand von Nachhaltigkeit über Lieferausschluss zu debattieren. Und: lt. Holtorf darf ein Nachhaltigkeitsmodul auch nicht zu kompliziert werden. Die Konzerne, die bekanntlich eigene Nachhaltigkeitsanforderungen aufgestellt haben, hätten sich bereits als zufrieden mit dem Konzept des Nachhaltigkeitsmoduls erklärt.
Tierzucht
Prof. Hermann Swalve, Institut für Agrar- und Enährungswissenschaften an der Universität Halle-Wittenberg, erklärte aktuelle Zuchtziele. Hier stehen Produktivität, Fitness, Gesundheit, Futtereffizienz sowie das Tierverhalten und spezielle Ziele wie Hornlosigkeit oben an. Auch die Methanemission ist erblich, ein laufendes Projekt „OptiKuh“ soll Aufschlüsse geben, wie die Emissionen in der Rinderhaltung reduziert werden können.
Swalve wies nebenbei darauf hin, dass Neuseeland sich bei weitem nicht so nachhaltig bei Milch erweist wie es dargestellt wird. Mit drei Kühen entsprechend 10.000 l Milch pro Hektar ist Neuseeland der weltweit intensivste Milchstandort.
Toxikologie
Futtermittelmykotoxine und Lebensmittelsicherheit bildete das Thema für Prof. Sven Dänicke (Foto: MIV), Institut für Tierernährung / Friedrich-Loeffler-Institut. Tendentiell ist der Transfer von Mykotoxinen aus Futtermitteln in die Milch gering, eine Ausnahme gibt es bei dem krebserregenden Aflatoxin B1, das in der Kuh zu Aflatoxin M1 umgewandelt wird. Bei schlechtem Importfutter können die zulässigen Grenzwerte überschritten werden, wobei dieses Futter bedingt durch den Klimawandel mittlerweile auch aus Europa stammen kann (vgl. Belastung von Futter auf dem Balkan im Jahr 2013). Laut Dänicke sind daher mehr Kontrollen auf Aflatoxin B1 nötig.
EU-Parlament
Das EU-Parlament neigt durchaus zu einer ausweitenden Interpretation seiner Befugnisse, stellte Prof. Rudolf Streinz (Foto: MIV), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht an der LMU, fest. Da die Zustimmung des Parlaments zur Rechtsetzung notwendig ist, erwächst ihm ein „hinkendes“ Initativrecht. Inzwischen lassen sich lt. Streinz Tendenzen zur Ausweitung des Verbraucherschutzrechts erkennen, dessen paternalistisches Leitbild bedenklich ist: immer mehr geht die EU zu Verbotsregelungen über (Health Claims etc.). Richtlinien werden zunehmend durch Verordnungen ersetzt, was Streinz zufolge vorteilhaft sein kann, sofern ein nationales „Draufsatteln“ (wie in Deutschland üblich) vermieden werden kann. Lobbyismus muss sowohl gegenüber der Kommission, als auch gegenüber Parlament und Bundesregierung betrieben werden, empfiehlt Streinz.
Zahlungsbereitschaft der Verbraucher
Prof. Sebastian Hess (Foto: MIV), Professur für Ökonomie der Milch- und Ernährungswissenschaft an der Universität Kiel, befasste sich mit der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher für „Vertrauensgüter“ wie Akzeptanz von Biotechnologie in Nahrungsmitteln oder Tierwohl. Hierbei ist Hess Metaanalysen nachgegangen, die übergreifend über verschiedene Studien hinweg angestellt wurden, dabei keine Einzelstudien ersetzen, aber die „Spreu vom Weizen“ trennen. Beim Faktor Tierwohl wächst die Verbraucherpräferenz mit dem Einkommen, interessanterweise auch in Schwellenländern. Bei der Biotechnologie wird die Verbraucherpräferenz in der EU als zu negativ eingeschätzt. Bleiben die Risiken überschaubar und besteht ein Nutzen für die Gesundheit, ist die Akzeptanz für Biotechnologie bei den Verbrauchern eventuell vorhanden, so die Folgerung von Hess.
Ein Highlight der Tagung des Wissenschaftlichen Beirats des MIV war die Verleihung des Milchwissenschaftlichen Innovationspreises an Prof. Ulrich Kulozik (links im Bild). Die Übergabe des Preises erfolgt durch Hans Holtorf, geschäftsführender Gesellschafter bei den frischli Milchwerken und Vizevorsitzender des MIV (Foto: mi)